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ICH SITZE HIER

Ich stelle mir vor, dass ich in einem Café sitze. In einem Café direkt am Meer. Zwischen dem Café, also mir und dem Peer verläuft ein gepfla...



Ich stelle mir vor, dass ich in einem Café sitze. In einem Café direkt am Meer. Zwischen dem Café, also mir und dem Peer verläuft ein gepflasterter Weg. Es sind Pflastersteine, die schon sehr lange hier liegen müssen, denn sie sind ganz weich und glatt abgelaufen, von vielen tausenden Schritten, von vielen tausenden Paar Füßen. Und ich sitze hier und lass mir die Sonne auf meine Füße scheinen. Es ist noch früh am Morgen, die Luft ist noch kühl und die Sonne kommt gerade langsam und träge über das Haus links von mir gekrochen. Auch die Sonne scheint an diesen heißen Sommertagen müde zu sein. Vielleicht weil sie sich tagtäglich verausgabt und mit all ihrer Energie Sonnenstrahlen Richtung Erde schickt.

Und ich sitze hier und schließe meine Augen, atme die Meeresluft ein, die einen leicht salzigen Geschmack in meinem Mund hinterlässt und von einer sanften Brise hier in den Hafen getrieben wird. Irgendwo krächzt eine Möwe, sie klingt wie ein schreiendes Kind. Ich öffne meine Augen. Vor mir befindet sich noch immer das Meer, nichts scheint verändert zu sein und ich begrüße den Gedanken, dass sich die Welt auch ohne mich weiterdreht und weiter bestehen bleibt, das gibt mir ein angenehmes Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit.

Und ich sitze hier und beobachte, wie die kleinen bunten Fischerboote mit so vielen verschiedenen Namen, die ich nicht einmal in Gedanken aussprechen kann, im Wasser auf und nieder schwanken, ganz ruhig und gleichmäßig und stetig dahin.

Und während ich hier so sitze, kommen immer mehr Menschen am Café vorbei. Ihre Schritte klappern über die Pflastersteine, klingen fast wie Steppschuhe und machen kreieren ihren ganz eigenen Rhythmus. Wo die Leute wohl alle hingehen? Zur Arbeit, zum Strand, einkaufen oder zur Schule? Eine junge Frau schiebt ihr Kind im Kinderwagen vorbei. Sie sieht müde aus, das Kind im Kinderwagen kaut auf einer Brotrinde herum, es ist vielleicht ein halbes Jahr alt. Im Gegensatz zu seiner Mutter ist es quietschvergnügt und putzmunter. Während es brabbelnde und glucksende Geräusche macht, scheint es sich mit sich selbst zu unterhalten und sich selbst eine Geschichte zu erzählen. Sobald die beiden in der nächsten Seitengasse verschwunden sind, fällt mein Blick auf einen alten Mann in einem verschlissenen Cordanzug mit Filzhut. Obwohl es noch immer früh am Morgen ist, frage ich mich, ob dem Herrn in seinem Anzug nicht heiß ist und, ob er vielleicht keinen anderen Anzug besitzt und ihn deshalb trägt. Er stützt sich mühevoll auf einen alten Holzstock, der sich unter seinem Gewicht immer wieder verbiegt. Da fällt mir auf, dass der Mann ein Bein starr hinter sich herzuziehen scheint. Vielleicht eine alte Kriegsverletzung? Sein Knie wirkt ganz steif und sein Gesicht angestrengt. Während er immer näher kommt, sehe ich Schweißperlen in seinem Gesicht glitzern. Ich schaue ihm noch nach, ehe er in einer Bankfiliale verschwindet. Hat er deshalb einen Anzug getragen, weil er dort einen wichtigen Termin hat?

Plötzlich bemerke ich, dass ich nun fast gänzlich in der Sonne sitze und fühle, wie mir angenehm warm ist. War mir vorhin kalt? Nein, vielleicht etwas kühl, aber die Wärme der Sonnenstrahlen tun mir jetzt einfach richtig gut. Ich atme tief ein und wieder aus, schließe nochmals für einen Moment die Augen und strecke mich durch. Ein leiser Seufzer entkommt meinem Mund. Ich überlege, ob ich vielleicht schon aufstehen soll und das Café verlassen will? Ich sehe auf die Uhr. Nein, dafür ist es noch zu bald. Denn ich liebe es die anderen zu beobachten und gleichzeitig selbst in der Menge unterzutauchen. Ich liebe diese Anonymität an diesem Ort. Niemand kennt mich hier, hier bin ich fremd, ich bin als Reisende hier.

Also bleibe ich noch sitzen und bestelle eine Limonade. Sie schmeckt ganz süß und gleichzeitig ganz frisch und sauer nach Zitronen. Nach ein, zwei Schluck hinterlässt sie ein kühles, angenehmes Gefühl in meinem Hals. Und wieder schließe ich die Augen für einen Moment, weil ich einfach genieße. Ich öffne meine Augen wieder, mein Blick schwebt suchend über die Menschen vor mir. Aber wonach suche ich eigentlich? Mein Blick bleibt schließlich an einer Gruppe von Schulkindern hängen. Es sind vielleicht acht oder zehn Kinder, die hier vorbeigehen. Vorneweg geht eine junge Frau, ganz zielstrebig und sichtlich konzentriert. Ist sie die Lehrerin? Nach einigen Augenblicken wird mir klar, dass sie die Lehrerin sein muss. Eins der Kinder läuft rufend zu ihr nach vorne, ich verstehe die Sprache nicht, kann aber erkennen, dass das Kind ganz aufgebracht ist. Die Lehrerin bleibt stehen, taucht jäh aus ihren Gedanken auf und dreht sich um zu dem Kind. Sie hört dem Jungen aufmerksam zu, ist plötzlich ganz bei ihm. Und ein wohlwollendes Lächeln breitet sich auf ihren Lippen aus. Ganz sanft und liebevoll. Und obwohl es so sanft ist, erreicht es dennoch ihre Augen, das kann ich sogar von der Ferne aus erkennen. Während der Junge noch mit ihr spricht, lächelt sie ihn weiter an und legt ihm eine Hand ganz zart auf seine Schultern. Das aufgebrachte Schulkind scheint sich zu beruhigen, die Lehrerin nimmt es an der Hand und sie gehen weiter, gleich verschwinden sie hinter einem alten steinernen Torbogen. Hinter ihnen die anderen Schulkinder. Eins nach dem anderen, bis sie alle vom Schatten des Torbogens verschluckt werden.

Und plötzlich fühle ich mich ganz einsam. Dieser liebevolle, sanfte Blick der jungen Frau, der Lehrerin geht mir direkt ins Herz. Ich will auch an der Hand genommen werden. Ich möchte auch angelächelt werden. Ein Gefühl seltsamer Trauer kommt in mir hoch, macht sich in mir breit, lässt mich sogar erschauern. Und ich bin froh, dass die Sonne jetzt meinen ganzen Körper wärmt. Das beruhigt mich, scheint diese Traurigkeit, die auch ein bisschen mit Wut vermischt ist, wieder zu besänftigen.

Ich sitze hier, aber ich merke, dass es jetzt an der Zeit ist für mich zu gehen. Ich winke dem Kellner, er kommt auf mich zu, ich bezahle. Und noch einmal schließe ich für einen Augenblick meine Augen, atme diesen Meerduft ganz tief ein, inhaliere ihn, als wäre er Medizin, rekle mich in der Sonne und stehe dann auf. Ich gehe über die glatten, großen Pflastersteine, direkt auf den alten steinernen Torbogen zu und ehe ich hinter ihm verschwinde und im selben Schatten der Gasse untertauche, wende ich meinen Blick nochmals zurück, zurück auf den kleinen Vorplatz des Cafés, direkt zu dem Platz von dem aus ich all die Leute beobachtet habe und erkenne, dass bereits eine andere Person genau dort Platz genommen hat und damit beginnt die Menschen um sich zu beobachten, während sie Limonade trinkt.

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